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Die gespaltene Gesellschaft

Diskursive Konstitution Japans zwischen Atombombe (genbaku) und Atomkraftwerk (genpatsu)

Teilprojekt 1: Literarische Artikulation des Atomaren

Projektverantwortlicher und -leiter: Prof. Dr. Stephan Köhn

Projektmitarbeiterin: Katharina Hülsmann, M.A.

Wissenschaftliche Hilfskraft: Marie-Christine Dreßen, B.A.

Förderzeitraum: November 2018 - Mai 2024

Auf den ersten Blick verbindet Hiroshima, Nagasaki (genbaku = Atombombe) und Fukushima (genpatsu = Atomkraft) – die drei nuklearen Katastrophen Japans – zunächst das „Atomare“. Ein etwas genauerer Blick macht aber eine weitere wichtige Gemeinsamkeit sichtbar: ihre besondere Notation im Japanischen. Denn während die drei Ortsnamen noch immer in der üblichen kanji-Schreibweise als 広島, 長崎, 福島 wiedergegeben werden, hat es sich etabliert, die katakana-Schreibweise (ヒロシマ, ナガサキ, フクシマ) zu verwenden, sobald nicht mehr nur die realen geographischen Orte, sondern die damit verbundenen Katastrophen gemeint sind. Diese Praxis beginnt bereits kurze Zeit nach den Abwürfen im August 1945.

Der Notationswechsel ist dabei nicht nur Ausdruck einer emotionalen Entfremdung bzw. transnationalen Bedeutung dieser Orte. Durch ihn findet vor allem eine irreversible Ent-Lokalisierung und Ent-Historisierung der beiden zerstörten Städte statt. Mit dieser Zäsur wird zwischen einer Zeit vor und einer Zeit nach den Abwürfen unterschieden. Oder anders formuliert: nach den Abwürfen beginnt die japanische Nachkriegszeit, was nicht nur historisch sondern auch linguistisch belegt werden kann. Hiroshima bzw. Nagasaki (genbaku) und Fukushima (genpatsu) umspannen einen diskursiven Raum, der die gesamte Nachkriegszeit nachhaltig prägt. Daher bilden sie auch den zeitlichen Rahmen (von 1945 bis 2011) des Projektes, in dem es darum geht, die Konstituierung eines „Nachkriegsjapans“ aus der Perspektive des „Atoms“ neu zu sichten.

Warum nun ausgerechnet Japan zur AKW-Großmacht aufsteigen konnte, ist nicht nur vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Auch stellt die geographische Lage im erdbebengefährdeten pazifischen „Ring of Fire“ eigentlich ein gewichtiges Argument gegen Atomenergie auf den japanischen Inseln dar. Dass die Atomkraft dennoch zum ideologischen Grundstein der japanischen Energieversorgung werden konnte, liegt an der dichotomen Betrachtung von Atombombe und Atomkraft. Spätestens seit den 1950er Jahren bzw. seit Eisenhowers Rede „Atoms for Peace“ im Jahr 1953 wird das Atom auch symbolisch gespalten, nämlich in „böse“ und „gute“ Energie, in Atomwaffe und Atomkraft. Seit dem 11. März 2011 ist jedoch auch das Image der „guten“ Atomkraft geschädigt. So stellt sich einmal mehr die Frage nach den Gründen für Japans „gespaltene“ Perspektive auf das Thema „Atom“.

Dieses Projekt, das im Bereich der Cultural Studies angesiedelt ist, intendiert, das Netz aus Diskursen, Institutionen, Gesetzen, Architekturen, Handlungsmustern, die das Dispositiv des „Atomaren“ bilden, zu rekonstruieren. Es versucht dabei aufzuzeigen, „wie soziale und politische Identität qua Macht im Feld der Kultur (re-)produziert wird“ (MARCHART 2008: 34-35). Methodisch bedient sich das Projekt der Instrumentarien der Diskurs- bzw. Dispositivanalyse, mittels derer untersucht werden soll, welche Machtwirkung dieses Zusammenspiel von Wissen, Praxis und Identität entfaltet.

Das Projekt besteht aus zwei Teilprojekten, die untersuchen, wie „Texte“ und „Bilder“ das Atom in Form von Atombombe und Atomkraft artikulieren. Dem Teilprojekt mit dem Titel „Alltagskulturell-bildsprachliche Artikulationen des Nuklearen“ widmet sich die Leipziger Japanologie unter der Leitung von Prof. Dr. Steffi Richter. Das Teilprojekt mit dem Titel „Literarische Artikulationen des Atomaren“ wird vom Team der Kölner Japanologie unter der Leitung von Prof. Dr. Stephan Köhn bearbeitet. Im Kern geht es bei diesem Teilprojekt um das literarische Schreiben über die Atombombenabwürfe auf Hiroshima bzw. Nagasaki und seiner Prägung durch verschiedene Steuerungsmechanismen auf Seiten gouvernementaler Akteure. Im Fokus stehen hierbei allerdings nicht einzelne Werke, sondern vielmehr die Atombombenliteratur genbaku bungaku als ganzheitliches literarisches Konzept der Nachkriegszeit.

Der innovative Ansatz dieses Projekts liegt in einer transdisziplinären Herangehensweise, die durch den Denkstil der Dispositivanalyse bedingt wird. Während Hauptuntersuchungsgegenstand die genbaku bungaku ist, wird keine klassische Textanalyse anhand ausgewählter Werke durchgeführt, sondern untersucht, welche Rollen Artikulationsarenen wie Schule und Museen bzw. Gedenkstätten dabei spielen, die Atombombenliteratur als festen Bestandteil japanischer Nachkriegsidentität zu formen, zu erhalten und ggf. zu transformieren

Regelmäßig stattfindende Workshops und Veranstaltungen sollen dabei eine Plattform zum Austausch der Projektbeteiligten untereinander und mit Außenstehenden ermöglichen.